Montag, 3. September 2007

Der Fünffingerlesturm ist in ernsthafter Gefahr



Von Siegfried Zagler


Es ist sehr lange her, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es Herbst war und zu Zeiten als es noch „Lichtmesser“ gab, Blende und Belichtungszeit manuell bestimmt wurden, und das Spiegelreflexgehäuse der Nikon F 1 nur von Profis benutzt wurde.

„Its marvellous... unbelievable ...wow...better than new-swan-stean, look, Karen! “
Und der ältere Herr aus Amerika trat einen Schritt zurück um seiner viel jüngeren Begleiterin den Blick durch den Sucher seiner Nikon, die samt einem mächtigen Objektiv auf einem dünnbeinigen Stativ aufgeschraubt war, freizugeben. „Yeah“..., mehr konnte ich von Karens Kommentar nicht verstehen, da ich die beiden joggend passiert hatte und fast schon außer Hörweite war. Beide fotografierten flüsternd den Fünffingerlesturm. Karen hielt einen weißen Belichtungsmesser in der Hand und unsere Blicke trafen sich nicht länger als zwei Sekunden. Sie blieb bis heute die schönste Frau, der ich je am Fünffingerlesturm begegnet bin. Es war morgens gegen sieben, wie gesagt, im Herbst an einem der seltenen nebligen Tage im Jahr. Die Herbstnächte konnten damals noch richtig kalt sein, die schmalen Grasufer des Grabens trugen Reif und der alte Wachturm, den alle Augsburger liebevoll nur Fünffingerlesturm nennen, schien wie ein Zauberpilz aus dem Nebel gewachsen. Wie lange ist das her? Fast zwanzig Jahre!
Warum ich mich daran so gut erinnere?
Vermutlich weil Karen in diesem Moment - an diesem Ort so feenhaft schön war!
Woher sie wohl kam?
Was hatte sie hierher verschlagen?
Weshalb der ältere Herr und die schöne Amerikanerin flüsterten, war für mich keine Frage: Aus Respekt vor dem grandiosen Moment, der schnell vorübergehen konnte und für wenige Minuten ein Fenster zu einem verloren geglaubten Gemütszustand der eigenen Kindheit öffnete. Als man noch an Märchen, Feen und verwunschene Prinzen glaubte, oder sich vor hässlichen Hexen ängstigte und ungewöhnliche Schönheit zu ernsten aber vorübergehenden Komplikationen führen konnte.


Damals fand ich es schick am Morgen zweimal um den Graben zu joggen, heute laufe ich die Schleife nur noch einmal und meistens abends mit dem Hund: Brückenstraße, Bleichstraße, Brechtstraße, an der Kahnfahrt im Bogen vorbei, den Oblatterwall entlang, über die namenlose Fußgängerbrücke, in die Untere Jakobermauer am Fünffingerlesturm vorbei, über die Gänsbühlbrücke und wieder zurück. Seit vielen Jahren werfe ich somit fast jeden Tag einen bewussten Blick auf den Fünffingerlesturm. Nicht immer, aber immer noch zu oft, fällt mir dabei dieser einzigartige Morgen ein – und Karen, die ich wohl längst vergessen hätte, wenn ich ihr nicht am Fünffingerlesturm begegnet wäre.

Der alte Mauerturm scheint wie vom Himmel gefallen. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, also zirka 400 Jahre nach seiner Fertigstellung, wurde die Stadtmauer zwischen Jakobertor und Oblatterwall abgetragen. Seit dem steht er monolithisch frei und scheinbar losgelöst von historischen Kontexten wie ein Findling in der beschaulichen Wohngegend am Gänsbühl. Das Zweckfreie provoziert zu Zeitreisen, schafft Langsamkeit und Raum für Wanderungen zu Orten, wo noch niemand war. Im Lauf der letzten 40 Jahre ist er vermutlich nur aus diesem Grund zu einem stillen Star in der Augsburger Architekturhistorie geworden. Verschlafen, rätselhaft und unergründbar wirkt er wie ein magischer Wegweiser in die verborgensten Winkel der Erinnerung. Das Fragmentarische entfaltet durch unaufdringliche Andeutungen eine seltsame Sphäre, die auf den empfindsamen Spaziergänger langfristig heilsam wie ein homöopathisches Medikament zu wirken scheint. Der Fünffingerlessturm verwandelt den stillen Wassergraben mit seinem Kastanienspalier von der Kahnfahrt bis zum Jakobertor zu einem prosaischen Psychotop, das den hier aufgewachsenen jungen Brecht für die Dichtung hypnotisierte und heute alltagsgeschädigten Stadtbewohnern im Vorübergehen Erholung stiftet.
Wer sich von Kind und Kegel zu einem kostspieligen Wochenendtrip ins Disneyland bei Paris hinreißen lassen sollte, wird verwundert feststellen, dass das Dachgebilde des Fünffingerlesturms für die Schlösschen der Comicfiguren Pate gestanden haben muss: Türmchen im Turm. Runde Spitzdächer, „Fingerle“ hier, „Fingerle“ da. Der Prototyp der Amerikaner ist natürlich Neuschwanstein, aber Ludwig II. hat überall abgekupfert!
Auch vom Fünffingerlesturm zu Augsburg?

Sehr unwahrscheinlich, dass sich Neuschwansteins Bauherr direkt von einem der einst zahlreichen Wachtürme der Augsburger Stadtmauer inspirieren ließ, aber vielleicht von der Machart seiner Dachkonstruktion, da konisch zulaufende Spitzdächer samt ihren angeflanschten verkleinerten Dubletten und den lustig wehenden Wimpeln zu Ludwigs Zeiten als feinsinniges Überbleibsel aus dem Mittelalter galten.

15 Jahre nach dem mysteriösen Tod des bayerischen Märchenkönigs wurde Carl Barks, der berühmteste aller Disney-Zeichner, geboren. Wenn immer Barks, der Schöpfer Entenhausens, ein Schloss oder eine Burg im Hintergrund zeichnete, trugen die Türme Züge vom Fünffingerlesturm. Das optische Erkennungsmuster des Mittelalters hat Barks seinen Landsleuten als liebliche Spitztürmchen mit „Fingerles“ tausendfach ins Bewusstsein gepflanzt.
Türme sind, ob nützlich oder nicht, Symbole, deren Chiffren im Lauf der Jahrhunderte erstaunlich stabil blieben. Und es spielt dabei kaum eine Rolle, ob es diese Türme niemals gegeben hat - wie den Elfenbeinturm - oder ob sie schlicht und real-funktionalistisch als Leuchttürme oder Funktürme arbeiten. Vergangenes und Zukünftiges bleibt durch das aus ihnen entstandene Metaphernwerk in unseren Sprachen gegenwärtig: mahnend, bittend, wegweisend, strafend, leidend, erinnernd, triumphierend.

Diese Attribute lassen sich ohne weiteres allesamt in den Fünffingerlesturm hineinträumen. Er scheint an seinem verwunschenem Gewässer nur einen Zweck zu verfolgen: die Fantasie seines Betrachters freizusetzen.

Seit knapp zehn Jahren fragen mich ausländische Studenten nach weniger abgenudelten Augsburger Fotomotiven, und ich schicke sie zum Graben am Oblatterwall, ohne dezidiert auf einen Turm hinzuweisen, selbstverständlich wird der Fünffingerlesturm öfters und leidenschaftlicher fotografiert als der renovierte - von Elias Holl gebaute - Wasserturm ganz in der Nähe. Weder die Kahnfahrt noch das Lueginsland haben die geringste Chance gegen den „Stillen Star“ am Graben. Inzwischen sind mehr als hundert Aufnahmen vom Fünffingerlesturm auf meiner Festplatte. Sie wurden mir aus China, Japan, Lateinamerika, Australien, USA, Südafrika und vielen europäischen Ländern per Mail geschickt. Ex-Studenten, die sich auf diese Weise bedanken. Fotos aus allen Winkeln zu jeder Tages- und Jahreszeit, unterlegt mit obligatorischen Grußformeln und melancholischen Hymnen auf vergangene Zeiten, die sich zwar nicht wiederholen lassen, aber immerhin ein Wiedersehen möglich machen.
Offensichtlich wird die Botschaft des Turms interkulturell verstanden.


Als am 25. August 2000 Carl Barks fast hundertjährig starb, gab es in den besseren deutschsprachigen Feuilletons ausführliche Nachrufe und eine handvoll Porträtfotos des Meisters. In einem davon erkannte ich den älteren Mann hinter der Nikon: „Its marvellous...unbelievable...wow, better than new-swan-stean, look Karen!“

Eine Spur, die mich zu Karen führen konnte?
Ich widerstand dem ersten Reflex, die vermeintliche Fährte übers Internet aufzunehmen.

Ich entschied mich also dafür, die unbekannte Amerikanerin für immer als eine flüchtige Begegnung an einem nebligen Herbstmorgen in Augsburg am Fünffingerlesturm in Erinnerung zu bewahren. Als ewig wiederkehrende Verheißung einer romantischen Träumerei. Als ferne wie unerreichbare Aussicht auf ein anderes Leben, ein besseres womöglich.

Man muss davon ausgehen, dass die meisten Menschen Heimat lokalisieren, indem sie frühe Erinnerungen mit Gebäuden, Straßenzügen und anderen Orte verknüpfen. Vermutlich ist Heimweh nichts anderes als ein Gefühl, dem ein Objekt, ein Ort fehlt und vermutlich verbinden mehr Augsburger ihr Heimatgefühl mit dem Rathausplatz, dem Dom, dem Ulrich, ihrer Gartenterrasse oder einer Kiesinsel und dem Geruch des Lechs als mit dem alten Fünffingerlesturm. Trotzdem konnte man ein gewisses Unbehagen und Erschauern nach den ersten veröffentlichten Fotomontagen des geplanten Treppenanbaus in der Augsburger Bevölkerung feststellen.


„Endlich ist es soweit, die altaugsburggesellschaft freut sich über einen großen Erfolg. Der Fünffingerlesturm erwacht aus seinem Dornröschenschlaf – dank einer großzügigen Anschubfinanzierung der Stadtsparkasse Augsburg.“ So nachzulesen auf der Homepage der „altaugsburggesellschaft“.

Das klingt nicht nur irrsinnig, sondern das ist es auch! Die Einsamkeit und Abgeschiedenheit, das Verschlafene des Turmes sind demnach ein jahrzehntelanger Makel, der „endlich“ vor der längst fälligen Beseitigung steht.
Warum hat sich eigentlich in Pisa noch keine Initiative formiert, die den ursprünglich geraden „Schiefen Turm“ wieder ins Lot stellen möchte?

Wer den Fünffingerlesturm aus seinem „Dornröschenschlaf wecken“ will, hat nicht verstanden was ihn so einzigartig und anziehend macht. Doch es ist in der Tat kein Witz. Das Projekt gilt als abgeschlossen und steht scheinbar kurz vor der Realisierung. Um das Ganze auch „touristisch attraktiver zu machen“, soll der Turm von außen durch einen „filigranen Treppenanbau begehbar werden.“ Das morbide Gebälk im Innern des Turms lasse ein sicheres Begehen von innen nicht zu, so die Vorsitzende der „altaugsburggesellschaft“ Anne Voit. Die „altaugsburggesellschaft“ hat dem Augsburger Stadtrat tatsächlich den Fünffingerlesturm als „museales Zentrum für das Zukunftsprojekt Augsburger Wallanlagen“ aufgeschwatzt. Es handelt sich nicht um einen Ulk bekiffter Studenten der Fachhochschule für Gestaltung!

Ein graphisches Modell ist auf der zitierten Homepage zu sehen. Es soll wohl die guten Absichten sichtbar machen. Ästhetisch allerdings wirkt das Treppengebilde aus Stahl und Beton dergestalt „modernistisch filigran“, dass man glauben könnte, das Ganze liegt seit den Siebzigern in der Schublade des Architekten. Ein mit dieser Außentreppe betretbarer Turm verliert seine Gestalt, das Turmhafte mutiert zu einem gestelzten Paradoxon. Scheinbar sind die Verantwortlichen dieses Attentats von allen guten Geistern verlassen und wild entschlossen sich einen Ehrenplatz im (noch) imaginären Verbrecheralbum der Augsburger Architekturgeschichte zu sichern. Ein Eindruck, den die Informationsveranstaltung in der Kahnfahrt vor einigen Wochen vermittelte.

Bedauerlicherweise geht es hier nicht um einen spannenden ästhetischen Diskurs, wie man ihn sich beim Possenspiel um die Aphrodite in der Maxstraße vergeblich gewünscht hat.
In dieser Angelegenheit geht es weder um geschmäcklerische Differenzierungen, noch um historische Horizonterweiterung, sondern um ein kompromissloses Nein, oder anders gesagt, um den Erhalt eines Ortes, der uns die Notwendigkeit des Träumens und Erinnerns vor Augen führt.
Empfindsamkeit hat keine starke Lobby, aber ihre sichtbaren Symbole stehen zumeist unter Schutz. In diesem Fall scheint aber nicht nur die Obere Denkmalschutzbehörde im Strudel des Treppenwitzes die Übersicht verloren zu haben. Möglicherweise könnte die Treppe mit der eingebauten Toilette(!) zielführender Gründe haben, als die Bauherrn aktuell zugeben möchten. Vermutlich braucht man diesen Anbau mit Klo notwendigerweise, um in Brüssel "die Museumsauflagen" zu erfüllen, um "als Museum" EU-Zuschüsse beantragen zu können.


Immerhin scheint es außerhalb des Augsburger Stadtparlaments kaum jemand zu geben, der am Fünffingerlesturm irgendetwas angebaut haben möchte. Vom blanken Entsetzen bis zum resignativen Kopfschütteln pendelten die ausschließlich ablehnenden Kommentare meiner Blitzumfrage.
"Was haben die mit meinem Fünffingerlesturm vor?", war dabei oft zu hören.
Interessanterweise betrachten viele Augsburger den alten Wachturm als den ihren, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass der Turm seit 140 Jahren nicht genutzt und verwertet wurde. Der "Taubenschlag" (O-Ton der "altaugsburggesellschaft") wird somit zur Denunzation, die in der Aussage gipfelt, dass der Turm bereits am Verrotten sei und eine Innentreppe die historische Bausubstanz angreifen würde. Die Stadt hat der "altaugsburggesellschaft" einen Überlassungsvertrag in Aussicht gestellt, und dabei wohl vergessen, dass der Fünffingerlesturm bereits seit vielen Generationen besetzt ist. Besetzt von der wichtigsten menschlichen Tugend: der Vorstellungskraft! Der Fünffingerlesturm braucht keine Treppe um begehbar zu sein. Er ist von außen zu betrachten, wie eine traumweisende Skulptur, deren Anblick die Zeit anhält. Und es ist eine aufregende Entdeckung, dass diese anachronistische Empfindung scheinbar von vielen geteilt wird.

Der Fünffingerlesturm ist mehr als ein Turm. Und es ist nichts als Anmaßung dieser außerordentlichen Erscheinung etwas hinzufügen zu wollen.

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